Feier 100 Jahre Frauenwahlrecht mit dem Blick nach vorne

Feier 100 Jahre Frauenwahlrecht mit dem Blick nach vorne 1

Das Foyer zum Saal der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung ist festlich geschmückt und gleicht einem Ballsaal. Und der Saal selbst ist, als Isabel Neuenfeldt zu Beginn der 100 Jahrfeier des Frauenwahlrechts am 19. Januar Lieder aus der Frauenbewegung anstimmt, bis zum letzten Platz mit engagierten Frauen gefüllt.
Vor genau 100 Jahren, am 19. Januar 1919, üben Frauen in Deutschland erstmals ihr Wahlrecht zur Verfassung gebenden deutschen Nationalversammlung aus. Und nur einen Monat später, am 19. Februar 1919, spricht mit Marie Juchacz erstmals in Deutschland eine Abgeordnete vor der Nationalversammlung in Weimar, die zudem einige Jahre zuvor in Rixdorf mit Gertrud Scholz zum Parteivorstand gehörte.
An Juchacz ergreifende Rede erinnerte Neuköllns SPD Fraktionsvorsitzende Mirjam Blumenthal in ihrer Festrede: „Mit der ungewöhnlichen Anrede „Meine Herren und Damen!“ löste Marie Juchacz laut Protokoll „Heiterkeit“ im Hohen Haus aus. Und schon kurz danach machte sie eine Position deutlich, die die Willenskraft der ganzen Frauenbewegung aufzeigte: „Ich möchte hier feststellen, und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“ Die SPD hatte bereits 1891 als einzige Partei das Frauenstimmrecht in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Es war Clara Zetkin, bis 1917 Mitglied der SPD, der es gelang, mit dem Internationalen Frauentag einen jährlichen Frauenkampftag für das Frauenstimmrecht auch in Deutschland zu etablieren.
„Die letzten 100 Jahre haben uns deutlich vor Augen geführt, dass wir trotz dem Recht zu wählen und gewählt zu werden nach wie vor einen steinigen Weg vor uns haben. Eine vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter gibt es in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht oft immer noch nicht. So zeigt uns täglich die „Gläserne Decke“ in Hinblick auf Einkommensunterschiede, berufliche Chancen und mangelnde Anerkennung, wie weit wir vom idealen Zustand noch entfernt sind“, betonte Blumenthal und machte den Frauen Mut. So zeige die Neuköllner SPD mit Cordula Klein und Blumenthal als weibliche Doppelspitze im Fraktionsvorstand, „dass Familie, Beruf und Ehrenamt machbar sind, wenn der Weg nicht versperrt wird und der Wille da ist“.
Auch Bezirksbürgermeister Martin Hikel beklagte, dass Frauen zwar formal, aber nicht faktisch gleichgestellt sind und begrüßte eine Quotenregelung, weil bestehende Männernetzwerke den Frauenanteil auf vielen gesellschaftlichen Ebenen verhindern.

So seien nur 31 Prozent der Abgeordneten im Deutschen Bundestag weiblich, in der BVV Neukölln seien immerhin von 55 Bezirksverordneten 23 Frauen. „Ich möchte, dass jedes Mädchen die Chance hat, Bürgermeisterin zu werden. Der Kampf für Gleichstellung geht weiter“, so Hikel.
Wie der Kampf weitergehen kann, schilderte Linn Selle, Präsidentin der „Europäischen Bewegung Deutschland“. Es brauche einen langen Atem, Engagement und Vernetzung, stellte sie fest. Dabei sei „die Forderung nach Parität in Parlamenten immer noch eine wichtige.“ Hier habe der Deutsche Frauenrat anlässlich des Jubiläums des Frauenwahlrechts eine solche Parität gefordert, der sich die anwesenden Frauen als Unterzeichnerinnen anschließen könnten. Die wichtigste Ebene sei das Erreichen der Quote in Unternehmensführungen. In Aufsichtsräten greife sie, nicht aber in „Unternehmensvorständen – obwohl diese Ebene ja die wichtigste ist, um Kulturveränderungen zu erreichen“, betonte Selle. Aber auch in Vereinen, Initiativen und der Zivilgesellschaft seien Frauen in „Spitzenämtern“ unterrepräsentiert. Hier gelte es, langfristig Ziele zu verfolgen und Teilerfolge zu feiern – auch wenn das natürlich nicht immer ganz leicht falle. „Wir brauchen engagierte Frauen und Männer auf allen Ebenen, die sich in demokratischen Strukturen für eine echte gleichberechtigte Gesellschaft einsetzen“, so Selle weiter.
Und dass dies von Erfolgen gekrönt sein kann, zeige die Geschichte der Frauenbewegung. Gesellschaftliches Engagement müsse „insgesamt frauenfreundlicher werden! Zu Zeiten von Marie Juchacz hieß es Familie und Kinder dem politischen Engagement unterzuordnen. Das sollte für uns heute kein Vorbild mehr sein! Das heißt auch in Vereinen und Verbänden: weniger Abendtermine, weniger Riesen-Portfolios, und auch ein kluges Teilen von Aufgaben – wie es Mirjam und Cordula etwa in der SPD-Fraktion der BVV vormachen“, so Selle.
Zum Schluss erinnerte sie daran, „dass der Kampf von Marie Juchacz und vielen andern deutschen Frauen mit einer „europaweiten Vernetzung von Frauen in Wien, London, Paris, Berlin und vielen weiteren Bewegungen in ganz Europa“ geführt wurde.  Dieser Blick über die Landesgrenzen hinaus sei auch heute notwendig, denn „frauenpolitische Themen stehen in vielen unserer Nachbarländer auch auf der Agenda. Seien es die Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen oder der erfolgreiche Kampf irischer Frauen für ein liberaleres Abtreibungsrecht. Wir können in Europa viel voneinander lernen und uns unterstützen!“ Vor Ort könnten sich Frauen im Rahmen der Neuköllner Städtepartnerschaften vernetzen! Es dürfe „heute keinen gesellschaftlichen Ort mehr geben, sei es das Unternehmen hier in Neukölln, die Polizei oder Parteien, die Kita oder der Sportverein, an dem nicht Frauen und Männer nebeneinanderstehen.“