Damit Solidarität Zukunft hat: Neue Wege für Kinder und Familien

Zeuthener Erklärung der Neuköllner SPD vom 6. September 2010

|1. Krise des Sozialstaats

Der deutsche Staat unternimmt auf allen Ebenen große Förderungs- und Transferanstrengungen, um Familien zu unterstützen, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und den sozialen Frieden zu erhalten. Nicht nur bei den Renten, im Gesundheitswesen und zur Absicherung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit wenden Staat und Gesellschaft Jahr für Jahr gewaltige Beträge auf. Auch große Investitionen in das Bildungswesen und die unmittelbare Unterstützung von Familien durch Kinder- und Elterngeld sind Ausdruck und Ergebnis sozialstaatlicher Politik und eines über Parteigrenzen hinweg weitgehend konsensualen Verständnisses von gesellschaftlicher Solidarität. Die in Generationen gewachsene politische Kultur einer offenen und solidarischen Gesellschaft ist ein hohes Gut. Sie zu bewahren ist die Pflicht aller politisch Verantwortlichen.

Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, hat die rot-rote Koalition in Berlin seit 2001 wichtige Weichen gestellt. Der Zugang zu Bildung wird durch die schrittweise Einführung der Kostenfreiheit an den Kitas erleichtert. Ein großer Schritt, um die Integrationsfähigkeit der Berliner Schule zu verbessern, ist die Abschaffung der Hauptschule und die damit verbundene Einführung der Sekundarschule.

Im gleichen Zeitraum hat der Bezirk Neukölln unter Führung der SPD seinen sozial- und integrationspolitischen Schwerpunkt im Bereich von Schule und Bildung definiert. Der Aufbau von Ganztagsschulen, die flächendeckende Einrichtung von Schulstationen in Nord-Neukölln, der Abbau der Wartelisten an der Musikschule, die Verbesserung der Sicherheit an den Schulen durch den Einsatz von Wachschutz und ein konsequentes Vorgehen gegen Schulverweigerung sind in gleicher Weise Markenzeichen sozialdemokratischer Politik geworden wie die Entwicklung zukunftsweisender Konzepte wie der Campus Rütli und das erste Ganztags-Gymnasium Berlins an der Albert-Schweitzer-Schule.

Dennoch stellen wir fest, dass es weder auf kommunaler noch auf Landesebene gelungen ist, eine Entwicklung anzuhalten oder umzukehren, die zu gesellschaftlicher Desintegration führt und die langfristig den sozialen Frieden bedroht. Die Kinderarmut wächst kontinuierlich. Ca. 20 % aller Kinder in Deutschland leben inzwischen von ALG II. Gerade die Kinder allein erziehender und gering qualifizierter Eltern sind in wachsendem Maß davon betroffen. Das Schulsystem ist im internationalen Vergleich besonders schlecht darin, Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft gleiche Bildungschancen zu sichern. Wissenschaftliche Studien belegen, wie unterschiedlich die Bildungs- und Aufstiegsperspektiven Berliner Kinder und Jugendlicher sind. Sie sprechen von einer „gespaltenen Kindheit“ in unserer Stadt.

Die Politik muss die Entwicklung als Alarmzeichen für eine Krise des Sozialstaats ernst nehmen. Die Kosten für sozialstaatliche Transfermaßnahmen steigen kontinuierlich an: So sind im Zeitraum 1991 bis 2008 die Sozialleistungen insgesamt in allen Haushalten um rund 70 Prozent auf über 720 Mrd. Euro angestiegen. Ihr Anteil am Bundeshaushalt liegt inzwischen bei über 50%. In Berlin wurde die im Jahr 2008 durch Schuldentilgung erreichte Zins-Entlastung in Höhe von 300 Mio. Euro noch im gleichen Jahr durch die Steigerung der Sozialausgaben wieder aufgezehrt. Wirtschaft und Bildungssystem entfalten eine viel zu geringe Integrationskraft. In Verbindung mit der allgemeinen demographischen Entwicklung stehen wir vor dem Problem, dass Wirtschaft und Verwaltung schon heute mit Überalterung und Fachkräftemangel konfrontiert sind, während gleichzeitig bis zu 25% der Jugendlichen die Schule ohne die notwendigen Voraussetzungen für den Beginn einer Ausbildung verlassen.

|2. Die alten Ziele bleiben richtig

Wenn wir unter den beschriebenen Bedingungen unser hohes Niveau gesellschaftlicher Solidarität auch für die Zukunft dauerhaft absichern wollen, bleiben die alten Ziele sozialdemokratischer Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik dafür die unabdingbare Voraussetzung. Nur durch eine hochproduktive, international konkurrenzfähige Wirtschaft auf industrieller Basis und durch Vollbeschäftigung werden wir in der Lage sein, den Sozialstaat zu erhalten. Nur wenn ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Leistungserbringern und Leistungsempfängern gewahrt wird, kann unsere Volkswirtschaft die Erträge liefern, die notwendig sind, um allen denjenigen Unterstützung zu geben, die sie brauchen.

Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre in politischer Verantwortung auf Landes- und Bezirksebene haben gezeigt, dass die notwendigen Grundsatzentscheidungen für eine nachhaltige Sozialstaatspolitik auf diesen Ebenen nicht getroffen werden können. Mit den Mitteln von Land und Bezirk sind wir nicht in der Lage, einerseits entsprechend den gesetzlichen Vorgaben Bedürftige finanziell und materiell zu unterstützen und die Infrastruktur an Bildungs-, Sport- und Freizeiteinrichtungen zu erhalten und andererseits Schule und Kita so zu reformieren und auszustatten, dass sie die Erziehungs- und Bildungsdefizite von Kindern aus bildungsfernen Familien ausgleichen können.

Diese Erfahrung machen vor allem die Kommunen in Deutschland täglich tausendfach. Neukölln ist insofern zwar ein Vorreiter der Entwicklung, aber alles andere als ein Einzelfall. Die Zeit ist reif für eine gesamtgesellschaftliche Debatte über die Zukunft des Sozialstaates, die auf kommunaler ebenso wie auf Landes- und Bundesebene zu führen ist. Das Leitbild muss dabei ein aktivierender Sozialstaat sein, dessen Maßnahmen dem Ziel dienen, Leistungsempfänger aus der Abhängigkeit von Sozialtransfers zu befreien und keine neuen dauerhaften Abhängigkeiten entstehen zu lassen. Ordnungspolitische Maßnahmen, um bereits eingetretene Fehlentwicklungen zu korrigieren, werden mit der notwendigen Wirksamkeit nur auf Bundesebene geregelt werden können.

|3. Entwicklung eines Programms für die Zukunft des Sozialstaats

Die Neuköllner SPD fordert eine breit, aber nicht langfristig angelegte gesellschaftliche Debatte mit dem Ziel ein Programm für die Zukunft des Sozialstaats zu definieren. Um das Missverhältnis von Fachkräftemangel einserseits und der Arbeits- und Perspektivlosigkeit gering Qualifizierter andererseits wieder ins Lot zu bringen, muss die Bildung und Qualifizierung der gesamten Bevölkerung Vorrang vor allen anderen Maßnahmen haben. Unabdingbare Voraussetzung ist ein Paradigmenwechsel bei der Familien- und Bildungsförderung. Statt Familien vorrangig durch direkte finanzielle Unterstützung materiell abzusichern, muss es in Zukunft nach dem Vorbild von Ländern wie Frankreich und Finnland darum gehen, Kinder und Jugendliche in exzellenten Bildungseinrichtungen auf den Lebens- und Berufsweg vorzubereiten.

Das wichtigste familienpolitische Unterstützungsinstrument sind Kindergeld und Kinderfreibetrag, für die der Bund jährlich Mittel in Höhe von 35 Mrd. Euro aufwendet. Weder die demographische Entwicklung noch die Integrationsbilanz der deutschen Schule sind geeignet, diesen Aufwand zu rechtfertigen. Vielmehr leistet das Kindergeld insbesondere bei bildungsfernen Familien offenkundig keinen Beitrag dazu, die Aufstiegschancen von Kindern zu verbessern.
Auch unter der Zersplitterung der deutschen Bildungslandschaft leidet die Integrationskraft des Bildungssystems und die Vergleichbarkeit seiner Ergebnisse. Die Länder-Zuständigkeit für die Schulbildung ist eine überholte Struktur, die mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt. Sie blockiert die notwendige große Reform der Bildungsfinanzierung und verhindert den effektiven Einsatz der für die Ausbildung unserer Jugend zur Verfügung stehenden Mittel.
Die Neuköllner SPD fordert deshalb, die Kompetenz für die Rahmengesetzgebung über die Schulbildung von den Ländern auf den Bund zu übertragen und 50% der bisher für Kindergeld aufgewendeten Mittel in einen Familien- und Bildungsfonds des Bundes und der Länder einzubringen. Die Mittel aus diesem Fonds sollen im Verhältnis zur Zahl der Kinder zweckgebunden an die Länder ausgezahlt werden. Die Länder können diese Gelder dann nach getätigten Investitionen im Kita- und Schulbereich zur Refinanzierung abrufen. Die Zweckentfremdung der Mittel zur allgemeinen Entlastung der Landeshaushalte muss ausgeschlossen sein.

Um im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sozialstaatliche Standards für Kinder und Jugendliche sicherzustellen, fordert die Neuköllner SPD von Erhöhungen der ALG-II-Regelsätze grundsätzlich abzusehen und stattdessen erhebliche zusätzliche Anstrengungen bei Sachleistungen in den Bildungseinrichtungen zu unternehmen. Dazu gehört eine Kita-Pflicht, eine erstklassige Personal- und Materialausstattung an Schule und Kita, die Garantie der Lernmittelfreiheit, kostenlose Schulverpflegung, Sport- und Freizeitangebote im Rahmen der Ganztagsschule, Sport-, Freizeit- und Nachhilfe-Angebote in der Ferienzeit und freie Heilfürsorge an den Schulen.
Das vom Bundesministerium für Soziales vorgeschlagene Gutscheinsystem für ALG-II-Kinder begrüßen wir als ein erstes Signal für eine neue Philosophie in der Familienförderung. Mittel- und langfristig muss es allerdings dazu führen, dass Sachleistungen alle Kinder über die staatlichen Institutionen erreichen. Mit individualisierten Leistungen ist kein nachhaltiger Strukturwandel abzusichern.

Der pädagogische Erfolg des gemeinsamen Lernens in Gemeinschafts- und Sekundarschulen hängt auch davon ab, dass genügend leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in diesen Schulen vorhanden sind. Gerade im Interesse der Kinder aus bildungsfernen Familien müssen deshalb die Anreize zur Familiengründung in der Mittelschicht gezielt verstärkt werden. Um die Familiengründung für arbeitstätige Eltern attraktiver zu machen, ist aber nicht nur eine erstklassige Erziehungs-Infrastruktur mit Ganztags-Krippen, -Kitas und -Schulen erforderlich. Als wichtigen materiellen Anreiz zur Familiengründung in Haushalten, die von Erwerbseinkommen leben, fordern wir außerdem die Abschaffung des ungerechten Ehegattensplittings und des Kinderfreibetrags. Diese Instrumente müssen durch ein Familiensplitting nach französischem Vorbild ersetzt werden, bei dem die Steuerlast auf alle Familienmitglieder verteilt wird.

Die anwachsende Höhe des Kindergeldes bei höherer Kinderzahl ist sinnlos. Dieses Instrument kann und darf auch gar nicht ausreichend ausgestattet werden, um die Geburt eines dritten, vierten oder fünften Kindes attraktiver zu machen als die Rückkehr in den Beruf. Falls ein höheres Kindergeld in Familien mit geringer Erziehungs- und Bildungskompetenz als zusätzlicher Anreiz wirkt, mehr Kinder zu bekommen, wirkt es sogar als Fehlsteuerung. Soweit am Kindergeld festgehalten wird, soll deshalb für alle Kinder Kindergeld nur in gleicher Höhe ausgezahlt werden.

Die grundgesetzliche Erziehungspflicht der Eltern ist auch als Pflicht zur Teilnahme an einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zur Ausbildung und Qualifizierung der Kinder und Jugendlichen aufzufassen. Sie muss rechtlich zu der gesellschaftlichen Unterstützung für Eltern und Familien ins Verhältnis gesetzt werden. Die Neuköllner SPD fordert deshalb die Ergänzung des Familienrechts um konsequente Anreize, den Elternpflichten nachzukommen. Dabei soll auf die fortgesetzte Verletzung dieser Pflichten auch mit der Kürzung von Transferzahlungen reagiert werden. Als Leitsatz gilt dabei die Formel: Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht auf das Konto.

Als zusätzliches Mittel, um dem Fachkräftemangel zu begegnen, fordern wir aktive Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Wettbewerb um die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte und ihrer Familien. Notwendig ist dazu nicht nur die gezielte Anwerbung und Unterstützung von gut ausgebildeten Zuwanderern, sondern auch eine Reform des deutschen Zuwanderungsrechts nach dem Vorbild erfolgreicher Einwanderungsländer wie Kanada und Neuseeland. Dazu gehören die Festlegung von Kontingenten und die Einführung eines Systems zur objektiven Bewertung der Integrations-Voraussetzungen, die ein zuwanderungswilliger Mensch mitbringt (z.B. ein Punktesystem). In ein solches Systems sind auch Zuwanderer einzubeziehen, die im Rahmen der Familienzusammenführung einreisen wollen. Die ungerechte Ungleichbehandlung von Nicht-EU-Zuwanderern, von denen bisher nur ein Teil der Pflicht unterliegt Sprachkenntnisse vorzuweisen, würde damit entfallen.

|4. Berliner SPD muss Impulsgeberin werden

Die in dieser Erklärung zusammengefassten Forderungen erheben nicht den Anspruch die notwendige Debatte zu ersetzen oder ihre Ergebnisse vorweg zu nehmen. Sie erheben auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sind das Resultat politischer Erfahrungen, die die Neuköllner SPD in den letzten zehn Jahren gemacht und diskutiert hat. Wir sind allerdings überzeugt, dass wir aufgrund unserer Erfahrungen genau die zentralen Fragestellungen aufwerfen, denen Politik und Gesellschaft sich stellen müssen, und dass unsere Lösungsansätze geeignet sind, zumindest einen Teil der Probleme im Geist von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu lösen.

Die Berliner SPD fordern wir auf, unverzüglich einen ergebnisoffenen Diskussionprozess anzustoßen, der nicht auf parteiinterne Debatten beschränkt bleiben darf. Berlin ist eine Stadt, deren Impulse über ihre eigenen Grenzen hinaus ausstrahlen. Die Berliner SPD hat als politische Kraft den Anspruch, dieser Stadt Richtung und Orientierung zu geben. Wir müssen unsere Kraft nutzen, um rechtzeitig bis zur nächsten Bundestagswahl die Konturen einer Sozialstaatspolitik zu definieren, die unserem solidarischen Gemeinwesen nicht nur eine realistische Zukunftsperspektive bietet, sondern sich auch auf breite gesellschaftliche Akzeptanz gründet.