
„Weil sie selbstbestimmt leben wollte, wurde Hatun Sürücü am 07. Februar 2005 von ihrem Bruder erschossen. Der „Ehrenmord“ prägt die Debatte um Gewalt an Frauen und Migration bis heute. Die Erinnerung an diese mutige junge Frau soll auch dafür sensibilisieren, dass Mädchen und Frauen bis heute systematischer Gewalt ausgesetzt sind“, sagt unsere stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gabriela Gebhardt. Sie nahm zusammen mit unserem Fraktionär Michael Morsbach am diesjährigen Gedenken an Hatun Sürücü am Gedenkstein am Oberlandgarten 1 teil. An diesem Ort wurde Hatun Sürücü von ihrem Bruder mit Pistolenschüssen hingerichtet.
Hatun Sürücü wuchs mit ihren fünf Brüdern und drei Schwestern in Kreuzberg auf. Als sie in die 8. Klasse geht, muss sie die Schule auf Geheiß ihres Vaters verlassen. Er hat andere Pläne mit ihr. Er verheiratet Hatun Sürücü in Istanbul mit ihrem Cousin. Sie wird schwanger, kehrt allein nach Berlin zurück und bringt hier ihr Kind zur Welt. Danach verlässt sie ihre Familie und zieht in ein Wohnheim für minderjährige Mütter. Ihr Ziel ist es, selbständig zu sein. Sie holt ihren Hauptschulabschluss nach, absolviert erfolgreich eine Lehre als Elektroinstallateurin und steht 2005 kurz vor der Gesellenprüfung. Die junge Frau will ihr Fachabitur in Süddeutschland machen. Doch dazu kommt es nicht. Die Morddrohungen gegen sie, die sie der Polizei meldete, wurden wahrgemacht. „Die Zahl der Femizide ist erschreckend – fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau aufgrund ihres Geschlechts von einem Mann getötet, meist von ihrem Partner oder Ex-Partner“, sagt Gebhardt. Bei rund 180.000 Fällen häuslicher Gewalt an Frauen in Deutschland sei es wichtig über die Zahlen hinaus an das individuelle Schicksal der Frauen zu denken, denen Gewalt angetan wird, sagte unser Bezirksbürgermeister Martin Hikel in seiner Rede vor dem Gedenkstein. Man müsse nüchtern und sachlich in der Gedankenwelt von Männern ansetzen, um zu ermitteln, welche Gegenmaßnahmen ergriffen werden können. Auch müsse man sich fragen, welche Strukturen in unserer Mehrheitsgesellschaft und in allen anderen Teilen der Gesellschaft zu der Gewalt an Frauen und Mädchen führen. Es sei traurig, dass der Mord an Frauen, weil sie Frauen sind, auch 20 Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü „ein „Thema ist, was uns jeden Tag umtreibt“. Dabei bleibe das Recht eines jeden Menschen, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen, stets der Leitfaden, sagte Hikel.
Aus dringlichen Termingründen konnte unsere Senatorin für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung, Cansel Kiziltepe, nicht am Gedenken teilnehmen. Für sie sprach unser Staatssekretär Aziz Bozkurt. Er berichtete über die Maßnahmen, die Berlin zum Schutz von Gewalt an Frauen ergriffen hat: In Berlin sind die Schutzplätze für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder deutlich ausgebaut worden. Darüber hinaus wurde der Landesaktionsplan zur Umsetzung der Istanbulkonferenz verabschiedet. Ferner wurden Beratungsstellen gestärkt. Zudem werde man sich dafür stark machen, dass Berlin im Bundesrat der Verabschiedung des Gewalthilfegesetzes zustimme. Dieses Gesetz schaffe einen verbindlichen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung in Fällen von geschlechtsspezifischer häuslicher Gewalt, so Bozkurt – es wurde am 14. Februar im Bundesrat einstimmig beschlossen. Es brauche aber auch schnellwirkende Maßnahmen zum Schutze vor Gewalt. In Berlin werde es zeitnah multi-institutionelle Fallkonferenzen für so genannte Hochrisikofälle häuslicher Gewalt geben. Diese Konferenzen seien ein effektives Mittel, um Tötungsdelikte zu reduzieren. Auch plädiere man für Fußfesseln in Fällen schwerer häuslicher Gewalt und hoher Gefährdung. Erfahrungen aus Spanien hätten gezeigt, dass dies eine wirksame Schutzmaßnahme sei. Dies werde im Zuge der kommenden Novellierung des Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz ein Thema sein. Man brauche allerdings einen langen Atem, um ein irregeleitetes und falsches Männlichkeitsbewusstsein zu bekämpfen, sagte Bozkurt. Hier gebe es keinen Rabatt für Kultur, Religion und ähnliches, so Bozkurt. Diesen Kampf weiterzuführen sei man Hatun Sürücü und allen Frauen und Mädchen schuldig, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt werden. Zum Schluss seiner Rede fügte Bozkurt hinzu, dass alles dafür getan werden müsse, dass Frauen und Mädchen unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder ihrer sexuellen Orientierung ein freies und selbstbestimmtes Leben in Sicherheit in unser Stadt führen können.
„Das Patriarchat steht hinter uns und macht uns kalt und brutal und klopft uns dabei auf die Schulter. Wir Männer werden dazu getrieben, Frauen als Besitz anzusehen, Frauen als minderwertig zu betrachten; als Wesen, deren Freiheit durch uns Männer gegeben und genommen werden kann. Im schlimmsten Fall wird nicht nur die Freiheit genommen, sondern auch das Leben. Genau deshalb wollen wir junge Männer es anders machen. Wir wollen gleichberechtigt, Seite an Seite auf Augenhöhe und Hand in Hand mit Frauen in dieser Gesellschaft zusammenleben und zusammenarbeiten, mit Frauen und mit allen Menschen jeden Geschlechts“. Mit diesen Worten beschrieb ein Sprecher von Heroes das Engagement der jungen Männer des Vereins. Er schloss die Rede mit den Worten „Ruhe in Frieden Hatun, wir werden dich nie vergessen!“
Am Gedenken nahm neben Tempelhof-Schönebergs Bezirksbürgermeister Jörn Oltmann, den Bezirksverordnetenvorstehern und Gleichstellungsbeauftragten der Bezirke Neukölln und Tempelhof-Schöneberg auch unser Bundestagsabgeordneter Hakan Demir teil. Gemeinsam mit Gebhardt und Morsbach legte er eine Blume am Gedenkstein nieder, im Stillen gedachten die Anwesenden Hatun Sürücü mit einer Gedenkminute.
An den Mord an der jungen Frau und Mutter erinnert in Neukölln die Hatun-Sürücü-Brücke. Ihr Mut, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist Thema in dem Film „Nur eine Frau“ (2019), Regie führte Sherry Hormann.