Neukölln durchläuft derzeit einen rasanten Wandel. Menschen aus ganz Europa finden hier ihr neues Zuhause. Veränderung abzulehnen, halten wir als Neuköllner SPD für rückwärtsgewandt. Die Offenheit und Attraktivität Neuköllns bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich. Dabei ist die Mietenpolitik ein wichtiges, aber eben nicht das einzige Thema, bei dem wir verantwortungsbewusst handeln müssen. Eine Replik – hier in voller Länge – von Severin Fischer auf den Gastbeitrag von Anne Helm.
„neuköllner.net“ ist Ende April für den Grimme-Online-Award nominiert worden. Damit haben die vielen ehrenamtlich Aktiven dieses Projekts einen tollen Erfolg errungen, zu dem ich herzlich gratulieren möchte. Gleichzeitig steht „neuköllner.net“ aber auch symbolisch für einen Veränderungsprozess in unserem Bezirk. Der Blog ist innovativ und repräsentiert das Neukölln von heute. Es bedarf allerdings auch keiner investigativ-journalistischen Fähigkeiten, wenn ich behaupte, dass sich die Beteiligten überwiegend nicht als gebürtige Neuköllnerinnen und Neuköllner ausweisen können (was nebenbei auch auf den Autor dieser Zeilen zutrifft). Daraus ist zu schließen, dass auch sie heute in Wohnungen leben, in denen vor ihnen andere Menschen gelebt haben. Offensichtlich haben sie damit ihren Kiez im Kleinen verändert. Die Gründe für den Wegzug ihrer Vormieter sind wohl vielfältig. Einer der Gründe mag mit Sicherheit auch ein steigender Mietpreis gewesen sein, den der eine zu zahlen bereit war, der andere nicht.
Das Dilemma ist offensichtlich: Vieles von dem, was den Norden Neuköllns heute ausmacht, beruht auf Veränderung. Das ist keine einsame Errungenschaft der Neuköllner SPD, aber wir sind auch nicht unglücklich darüber, Rahmenbedingungen geschaffen zu haben, die Freiräume zur Entfaltung bieten und dafür sorgen, dass Menschen sich in unserem Bezirk wohlfühlen. Dazu gehören die Modernisierung öffentlicher Anlagen, aber auch kulturelle Angebote und Freizeiteinrichtungen. Gleichzeitig gelingt es immer mehr (jungen) Menschen, die seit Jahren in Neukölln leben, Anschluss an diese Entwicklungen zu finden, von besseren Bildungseinrichtungen zu profitieren und Arbeitsstellen zu finden. Die Argumentation, dass steigende Beschäftigungszahlen im Bezirk für eine zunehmende Verdrängung von Menschen stehen, ist aus meiner Sicht unzulässig. Der Umkehrschluss würde ja lauten: Je höher die Arbeitslosigkeit, desto authentischer sei Neukölln. Das kann niemand ernsthaft wollen. Insofern unterstützt die Neuköllner SPD einen Veränderungsprozess, der unsere Kieze vielfältiger macht und Menschen erstmals eine Chance zum Aufstieg durch Bildung und Arbeitsplätze in ihrem Heimatbezirk ermöglicht.
Seit einiger Zeit reflektiert nun auch die Entwicklung auf dem Neuköllner Mietmarkt Veränderung in zwei Kategorien: Neukölln ist zum einen attraktiv für Angebot und Nachfrage. Zum anderen gibt es keinen Leerstand mehr. Schlechte Lage und hohe Leerstandquote waren bis vor wenigen Jahren noch die Erkennungsmerkmale Neuköllns auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Dass dies zunächst einmal für Aufatmen sorgte, versteht jeder, der die Vita Neuköllns als „Problembezirk“ kannte. Nun wird allerdings zunehmend offensichtlich, dass wir in eine Phase eintreten, in der diese Entwicklung gefährlich zu werden droht. Darauf haben wir mit ersten Maßnahmen reagiert und werden auch in Zukunft reagieren. Im Vordergrund steht für uns, dass wir nun Regelungen schaffen, die erstens umsetzbar sind und zweitens nicht auf Kosten anderer wichtiger sozialer Projekte gehen, die wir über Jahre mit viel Arbeit und öffentlichen Mitteln aufgebaut haben. Auch ein Bezirkshaushalt reflektiert letztlich eine Abwägung unterschiedlicher Ziele und Wünsche.
Wir haben mit großer Erleichterung wahrgenommen, dass der Bundesgesetzgeber auf SPD-Initiative nicht nur die Mietpreisbremse eingeführt hat, die ab 1. Juni auch in Neukölln gilt, sondern ebenso eine Wohngelderhöhung durchgesetzt hat. Beides wird absehbar mehr Wirkung entfalten, als sämtliche Maßnahmen des Bezirks es auf dem Wohnungsmarkt leisten könnten. Damit die Begrenzung der Mietpreise bei Neuvermietung auf einem Niveau knapp über dem Berliner Mietspiegel auch tatsächlich Wirkung entfaltet, bedarf es auch gesellschaftlichen Engagements, um dubiosen Vermietern hier frühzeitig das Handwerk zu legen.
Dass nun die Neuköllner Bezirkspolitik über das Thema Milieuschutz zunehmend in den Mittelpunkt der Mietendebatte rückt, hat seine guten und seine schlechten Seiten. Positiv hervorzuheben ist das Engagement vieler Menschen im Bezirk, die sich austauschen und das Thema, etwa über eine Bürgerinitiative, immer wieder auf die Tagesordnung der Bezirkspolitik bringen. Die 3.500 gesammelten Unterschriften sind ein Beweis für dieses Engagement, das wir sehr begrüßen. Bedauerlich ist es, wenn dabei Bezirkspolitiker wahlweise für allmächtig oder – noch schlimmer – für untätig gehalten werden.
Mit der Einführung von Milieuschutzgebieten können, wie Anne Helm richtigerweise ausgeführt hat, Luxusmodernisierungen auf Ebene des Bezirks ausgebremst werden. Bedauerlicherweise zählt Anne Helm daraufhin all diejenigen Dinge auf, die wir nicht verhindern können und teilweise auch nicht wollen, etwa Dachgeschossausbau („schafft neuen Wohnraum“) oder Fahrstühle („ermöglicht generationenübergreifendes und barrierefreies Wohnen“). Die Wirkung von Milieuschutzsatzungen ist entsprechend überschaubar, wenn auch nicht belanglos. Daher haben wir uns bereits im vergangenen Jahr dazu entschieden, mit ersten Testläufen für die Einführung von Milieuschutzgebieten zu beginnen: im Reuter- und im Schillerkiez.
Um Milieuschutzgebiete einzurichten, ist jedoch eine Voruntersuchung gesetzlich vom Bund vorgeschrieben, die nicht nur Haushaltsmittel bindet, sondern auch Zeit in Anspruch nimmt. Voruntersuchungen sind also keine Freizeitbeschäftigung der Neuköllner Bezirkspolitik, sondern eine erforderliche Voraussetzung, um im Nachgang vor Gericht nicht gegen Hausbesitzer zu verlieren, die gegen die Festsetzung der sozialen Erhaltungsverordnung klagen. Daher müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Nicht weil wir auf die Bremse treten wollen, sondern weil wir uns an gesetzliche Anforderungen halten müssen.
Neben den rechtlich notwendigen Prozessabläufen müssen wir auch Mittel aus dem Bezirkshaushalt für Voruntersuchungen freimachen und zusätzliches ausgebildetes Personal zur Überwachung und Durchführung einstellen. Auch das benötigt Vorlaufzeiten. Ein „flächendeckender Milieuschutz für ganz Nord-Neukölln“ hätte unter diesen Bedingungen von heute auf morgen praktisch nicht umgesetzt werden können. Insofern übergehen wir die 3.500 Neuköllnerinnen und Neuköllner in keinem Fall. Wir nehmen ihre Sorgen ernst und wollen ihr gefordertes Ziel Schritt für Schritt und mit Blick auf die Problemlagen einzelner Kieze erreichen. Sicher ist aber: Es wird in den kommenden Monaten und Jahren immer mehr Kieze in Nord-Neukölln geben, für die eine Milieuschutzsatzung gilt.
Wir haben in den vergangenen Jahren unter anderem in Neuköllner Schulen investiert, die Integration von Menschen aus Südosteuropa in Bildungseinrichtungen unterstützt, mehr Möglichkeiten für die Neuköllner Kiezkultur und vieles mehr geschaffen. Dass wir immer gerne mehr machen würden, ist jedem klar. Auch bei der Mietenpolitik müssen wir schrittweise vorangehen, um weiterhin verantwortungsvoll handeln zu können.
Severin Fischer ist Mitglied des Kreisvorstands der Neuköllner SPD, Bürgerdeputierter im Stadtentwicklungsausschuss der BVV und Neukölln-Migrant der 00er Jahre.